Ende dieses Seitenbereichs.

Beginn des Seitenbereichs: Inhalt:

Kant und die begriffsbildende Reflexion

In der Kommentarliteratur neigt man dazu, Kants Lehre der Begriffsbildung von Baumgarten und Meier her zu interpretieren. Das gilt insbesondere für die Rolle der begriffsbildenden Reflexion. In meinem Vortrag zeige ich, dass Kants Reflexionsverständnis näher an dem von Reimarus ist, eine Identifikation der Positionen aber auch hier zu kurz greift.


Viele Interpreten sind der Überzeugung, dass Kant seine Lehre der Begriffsbildung von Alexander Gottlieb Baumgarten oder Georg Friedrich Meier übernimmt1 oder nur darin von den genannten Autoren abweicht, dass er die Reihenfolge der begriffsbildenden Verstandeshandlungenändert.2 Kants Lehre von Meier her zu verstehen, liegt insofern nahe, als der Logikcorpus (Jäsche Logik, Reflexionen zur Logik, Mitschriften der Logik-Vorlesung) in Auseinandersetzung mit Meiers Auszug aus der Vernunftlehre entstanden ist; Baumgartens Metaphysica lag Kants Metaphysik-Vorlesung zugrunde und seine Logik befand sich ebenfalls in Kants Besitz.3 Während der reflexio bei Baumgarten und Meier die Aufgabe zukommt, sich die Teile einer Vorstellung nacheinander zu vergegenwärtigen,4 beruht sie bei Kant allerdings auf einem Vergleich verschiedener Vorstellungen.5 Ein Vergleich ist auch Bestandteil der baumgarten- und meierschen Begriffsbildung. Er wird bei diesen beiden Autoren aber unter dem Titel der comparatio eingeführt, nicht dem der reflexio.6 Zumindest was die Terminologie anbelangt, können Baumgarten und Meier also nicht als Vorbild gedient haben.
     Näher an Kant ist in dieser Hinsicht Hermann Samuel Reimarus, dessen Logik sich ebenfalls in Kants Besitz befand7 und der die Reflexion - wie Kant - als einen Vergleich von (vorgestellten) Dingen bestimmt.8 Genau genommen ist die Reflexion bei Reimarus nicht einfach nur ein Vergleich, sondern ein Vergleich auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin - ein präzisierender Zusatz, der sich auch im kantischen Logikcorpus findet.9 Und wie bei Kant bildet die Reflexionden wesentlichen Akt der Begriffsbildung.10 Angesichts dieser Gemeinsamkeiten stellt sich die Frage, ob Kant sein Reflexionsverständnis nicht also doch "von der Tradition" übernommen hat, nämlich von Reimarus.
     Vergegenwärtigt man sich, welche ontologischen und epistemologischen Voraussetzungen der jeweiligen Lehre der Begriffsbildung zugrunde liegen, zeigt sich allerdings, dass eine Identifikation der beiden Positionen eine unzulässige Vereinfachung darstellt. Bei Reimarus wie bei Kant dient die begriffsbildende Reflexion nämlich zwar dazu, die vorgestellten Dinge auf ihre Ähnlichkeiten hin zu vergleichen. Während in Hamburg aber vorausgesetzt wird, dass "das Ähnliche" in den Dingen (ontologische Voraussetzung) und den sinnlichen Vorstellungen von ihnen (epistemologische Voraussetzung) gegeben ist, wird es in Königsberg - genauer gesagt:die Vorstellung von ihm (dem Ähnlichen) - durch die Reflexion erst hervorgebracht.
     Wie in der Einleitung zur Vernunftlehre zunächst allgemein erklärt wird11 und später in Bezugauf die allgemeinen Begriffe präzisiert wird,12 korrespondiert der begrifflich vorgestellten Ähnlichkeiteine Ähnlichkeit in den Dingen selbst. Diese Ähnlichkeit kann sinnlich wahrgenommenwerden.13 Kraft der Reflexion wird dasjenige identifiziert, worin mehrere Dinge einander ähnlich sind, und durch Weglassung des Unähnlichen ein allgemeiner Begriff gebildet.14 Nach Kant sind Begriffe zwar allgemeine Vorstellungen von demjenigen, worin mehrere Dinge einander ähnlich sind. Die vorgestellte Ähnlichkeit zeigt - als etwas Allgemeines - aber "keinen Unterschied in der Beschaffenheit der Dinge [an]" (AA VIII, 217 Fußnote), wie Kant gegen Eberhard und auch Baumgarten15 einwendet, die die infrage stehende ontologische Voraussetzungmit Reimarus teilen.16 Dies lässt erwarten, dass die Ähnlichkeit auch nicht sinnlich wahrgenommen werden kann, und es bestätigt sich, dass das auch Kants Auffassung ist. Die Vorstellung von demjenigen, worin mehrere Dinge einander ähnlich sind, ist etwas Diskursives, das durch die Reflexion erst hervorgebracht werden muss.17 Es bedarf einer Interpretation von Kants Lehre der Begriffsbildung, die dieses konstruktive Moment der begriffsbildenden Reflexionernst nimmt.
_______________________________

 

1 Vgl. Vásquez Lobeiras 1998, 145; Grüne 2009, 99; Birken-Bertsch 2015, 2472f.
2 Vgl. Liedtke 1966, 215.
3 Vgl. Warda 1922.
4 Vgl. Baumgarten 1739, §626, §631 und Baumgarten 1761, §33; Meier 1749, §301 und Meier 1752, §259.
5 Vgl. AA XX, 211; AA XXIV, 65422-5, 90920-21; KrV, A262/B318.
6 Vgl. Baumgarten 1739, §626, §631 und Baumgarten 1761, §33; Meier 1749, §308 und Meier 1752, §259.
7 Vgl. Warda 1922.
8 Vgl. Reimarus 1756, §26, §73.
9 Vgl. AA XXIV, 5676-7 ≈ Nachschriften II, 608537-8.
10 Vgl. Reimarus 1756, §26, §73; AA XVI, 546 R2851 (≈ AA IX, 9410-13), 552 R2865.
11 Vgl. Reimarus 1756, §35.
12 Vgl. ebd., §101.
13 Vgl. ebd., §73.
14 Vgl. ebd.
15 AA XXVIII, 421f., 503, 560, 637.
16 Vgl. Eberhard 1789, 288f., 295; Baumgarten 1739, §149.
17 Vgl. AA XVI, 546 R2851 ≈ AA IX, 9410-13.


Provisorisches Literaturverzeichnis:

AA = Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften
Nachschriften II = Logik-Vorlesung. Unveröffentlichte Nachschriften II (Pinder).

Baumgarten, A. G. 1739. Metaphysica.
Baumgarten, A. G. 1761. Acroasis logica.
Eberhard, J. A. 1789. Philosophisches Magazin. Erster Band.
Meier, G. F. 1749. Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Zweyter Teil.
Meier, G. F. 1752. Auszug aus der Vernunftlehre.
Reimarus, H. S. 1756. Vernunftlehre.

Birken-Bertsch, H. 2015. "Vergleichen, Vergleichung" in Kant-Lexikon (Willaschek).
Grüne, S. 2009. Blinde Anschauung.
Liedtke, M. 1966. "Der Begriff der Reflexion bei Kant" in Kant-Studien.
Vásquez Lobeiras, M. J. 1998. Die Logik und ihr Spiegelbild.
Warda, A. 1922. Immanuel Kants Bücher.

Kontakt: Sekretariat

Fachoberinspektorin

Ingeborg Röllig

Institut für Philosophie

Heinrichstraße 33/EG, 8010 Graz

Telefon:+43 316 380 - 2295

Parteienverkehr:
Mo - Fr 9.00-12.00 Uhr

Ende dieses Seitenbereichs.

Beginn des Seitenbereichs: Zusatzinformationen:

Ende dieses Seitenbereichs.