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Die Empirisierung der transzendentalen Subjektivität nach Kant: Schopenhauer und das Programm der physiologischen Neukantianer Helmholtz, Lange und Rokitansky

In meinem Beitrag möchte ich auf Kants Kritik an Samuel Soemmerings (1755-1830) Versuch, den Sitz der Seele ausfindig zu machen, eingehen und gleichzeitig anhand von Schopenhauers Einwänden gegen diese Kritik zeigen, wie sich Kants Nachfolger, im Sinne des neukantianischen Programms einer "Empirisierung des Transzendentalen", der physiologischen Forschung wieder annäherten.
     Soemmering bat Kant um ein Nachwort für seine hirnanatomische Studie "Ueber das Organ der Seele" (1796). Er spekulierte mit einer Zustimmung Kants zu seinem Vorhaben, weil dieser selbst die Möglichkeit gegeben sah, dass Assoziationen von Vorstellungen physiologisch erklärt werden könnten und andererseits die Erforschung psychischer Phänomene durch eine empirische Wissenschaft - die Anthropologie - forderte.
      Kant sprach sich allerdings gegen Soemmerings Vorhaben aus, denn müsse die physiologische Erklärung an jenem Punkt scheitern, an dem gezeigten werden soll, wie Vorstellungen zum Bewusstsein eines Dings verknüpft werden könnten. Kant meinte, dass die ursprüngliche Apperzeption und die Synthesis, auf die die Einheit der Erfahrung zurückgehe, sich nicht durch empirische Wissenschaften erklären lassen würden. Gegen das Vorhaben Soemmerings, der einen Sitz der Seele ausfindig machen wollte, argumentiert Kant, dass es widersprüchlich sei, mit jenem Sinn, der die außenliegende Umwelt wahrnimmt, das wahrnehmen zu wollen, was nur dem inneren Sinn zugänglich ist. Es sei unmöglich, Bestimmungen der Seele, die in "virtueller Gegenwart" bloß dem Verstand zugänglich seien, aber keinen Ort besitzen würden, durch physiologische oder anatomische Untersuchungen zu treffen.1 Wolle man "den Ort" der Seele "irgendwo im Raume anschaulich machen", müsse man sich selbst "durch eben denselben Sinn wahrnehmen", durch welchen die einem "zunächst umgebende Materie" wahrgenommen werde. Man könne für die Seele keinen Ort bestimmen, "weil sie sich zu diesem Behuf zum Gegenstand ihrer eigenen äußeren Anschauung machen und sich ausser sich selbst versetzen müßte; welches sichwiderspricht".
     Soemmering hatte einen Sitz der Seele ausfindig machen wollen, Kant aber bereits in der "Kritik der reinen Vernunft" das denkende Ich, als "Seele" zum Gegenstand des "inneren Sinnes" und damit gleichzeitig zum "Gegenstand der Psychologie" als "rationale Seelenlehre" erklärt. Von dieser sei der Gegenstand "äußerer Sinne" zu trennen, der als "Körper" zu bezeichnen sei. Die Erforschung der Seele gehöre zum Bereich der "transzendentalen Analyse" solange man von der Funktion der Seele nicht mehr erklären möchte, "als was unabhängig von aller Erfahrung [...] aus diesem Begriff Ich [...] geschlossen werden kann".3 Erst was nicht zur "transzendentalen Analyse", sondern zur "empirischen Analyse" gehöre, könne zum Gegenstand anatomischer oder physiologischer Forschung werden.4
     Kant behauptet in seiner Schrift "Der Streit der Fakultäten" (1798), dass bezüglich psychischer Phänomene die medizinische Fakultät, insbesondere die Anatomie und Physiologie, mit der philosophischen Fakultät in Streit geraten würde. Gewinnt die erste nach Kant ihre Erkenntnisse durch empirische Studien, habe die zweite es mit a priori gewonnenen Erkenntnissen zu tun. Letztlich könne die Seele ausschließlich zum Objekt des "inneren Sinnes" werden, woraus folge, dass die Seele nicht räumlich zugeordnet werden könne. In diesem Sinne können Anatomie und Physiologie keine Aussage über die Einheit des Bewusstseins treffen.
     Schopenhauer präsentierte hingegen im 2. Band von "Die Welt als Wille undVorstellung" (1844) eine Auffassung, der zufolge das Bewusstsein "durch das Gehirn und seine Funktionen bedingt" sei.5 Um einer zirkulären Argumentation zu entgehen, unterschied er zwischen einer realistischen oder objektiven und einer transzendentalen oder subjektiven Betrachtungsweise, wobei beide in Übereinstimmung gebracht werden müssten.6 Er zog in diesem Sinne, anders als Kant, physiologische Untersuchungen der damaligen Zeit für die Erklärung des Bewusstseins heran und bezog sich in diesem Sinne unter anderem auf die Untersuchungen Pierre Flourens (1794-1867).7 Er ging im Sinne einer evolutionären Betrachtungsweise von einem "sekundären Charakter des Bewusstseins aus".8 Er behauptet, dass das "erkennende und bewußte Ich" weit davon entfernt sei, "das schlechthin Erste zu sein", stattdessen sei es "im Grunde tertiär, indem es den Organismus voraussetzt, dieser aber den Willen."9 "Objektiv angeschaut", d. h. aus der Sicht der objektiven Betrachtungsweise, stelle sich das erkennende Bewusstsein "als das Gehirn nebst Dependenzien, alsoRückemark und Nerven" dar.10 Über die Einstellung Kants heißt es: "Eine Philosophie, welche wie die Kantische diesen Geschichtspunkt [d.h. die Erkenntnisse der Physiologie. Anmerkung J. H.] für den Intellekt gänzlich ignoriert, ist einseitig und ebendadurch unzureichend. Sie läßt zwischen unsrem philosophischen und unsrem physiologischen Wissen eine unübersehbare Kluft, bei der wir nimmermehr Befriedigung finden können."11

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1 Soemmering, Samuel Thomas: Über das Organ der Seele, Königsberg 1796 (mit einem Beitrag von ImmanuelKant), S 81-86; hier: S 82.
2 Ebda. S 86.
3 KdrV. B 400.
4 Vgl. Michael Hagner: Homo Cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt am Main/Leipzig:Insel 2000, S 80.
5 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Textkritische Ausgabe in zwei Bänden, hrsg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen. Frankfurt am Main/Leipzig 1996, S 358f.
6 Ebda. S 352ff.
7 Ebda. S 264.
8 Ebda. S 359.
9 Ebda. S 360.
10 Ebda. S 324.
11 Ebda. S 353.

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